Eine neue Studie des Basler Forschungsinstituts BAK Economics zeigt auf, dass ein hypothetischer Wegfall der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union (EU) erhebliche finanzielle Auswirkungen für die Schweiz hätte. Demnach könnte der Wohlstand pro Kopf bis zum Jahr 2045 um durchschnittlich 5200 Franken pro Jahr sinken. Diese Zahlen sind höher als frühere Schätzungen und unterstreichen die wirtschaftliche Bedeutung der bestehenden Abkommen.
Wichtige Erkenntnisse
- BAK Economics prognostiziert einen Wohlstandsverlust von 5200 Franken pro Kopf bei Wegfall der Bilateralen I.
- Die Personenfreizügigkeit trägt dabei den grössten Anteil zum potenziellen Verlust bei.
- Die wirtschaftliche Verflechtung mit der EU hat zugenommen, was die höheren Schätzungen erklärt.
- Die Studien zeigen einen möglichen «Worst Case» bei Nichtunterzeichnung des neuen EU-Vertragspakets auf.
Neubewertung der wirtschaftlichen Auswirkungen
Die aktuelle Untersuchung von BAK Economics wurde im Auftrag von Economiesuisse durchgeführt. Sie analysiert die potenziellen Folgen eines Endes der bilateralen Verträge über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Die Ergebnisse zeigen einen signifikanten Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf. Dieser Rückgang wird auf 5200 Franken pro Person geschätzt, sollte es zu einer Kündigung der Bilateralen I kommen. Diese Summe stellt den Wohlstandsverlust im Jahr 2045 dar, verglichen mit einem Szenario, in dem die Abkommen bestehen bleiben.
Im Juni dieses Jahres hatte bereits das Berner Forschungsbüro Ecoplan eine ähnliche Studie veröffentlicht. Diese kam zu dem Ergebnis, dass der jährliche Einkommensverlust pro Kopf bei 2500 Franken liegen würde. Obwohl die Zahlen von BAK Economics höher ausfallen, sind sie nicht direkt vergleichbar, da unterschiedliche Grössen (BIP pro Kopf versus Einkommen pro Kopf) verwendet wurden. Beide Studien zielen jedoch darauf ab, den potenziellen Wohlstandsverlust zu quantifizieren.
Faktencheck
- BAK Economics: 5200 Franken BIP-Verlust pro Kopf bis 2045.
- Ecoplan (Juni-Studie): 2500 Franken Einkommensverlust pro Kopf.
- Beide Studien analysieren die langfristigen Folgen eines Wegfalls der Bilateralen I.
Entwicklung der Schätzungen über die Jahre
BAK Economics und Ecoplan haben bereits in den Jahren 2015 und 2020 vergleichbare Berechnungen durchgeführt. Diese früheren Studien waren Teil einer umfassenden wirtschaftlichen Analyse der Beziehungen zur EU, die nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014 vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) initiiert wurde. Die Methodik der aktuellen Studien blieb weitgehend unverändert, wurde jedoch aktualisiert.
Die Ergebnisse zeigen eine Tendenz zu höheren Verlustschätzungen. Vor zehn Jahren bezifferte Ecoplan den Rückgang des BIP pro Kopf bei einem Wegfall der bilateralen Verträge auf 1,5 Prozent. Aktuell liegt dieser Wert bei 1,7 Prozent. Bei BAK Economics hat sich der geschätzte Verlust pro Kopf seit der ersten Studienversion von 3,9 auf 4,7 Prozent erhöht. Diese Zunahme der geschätzten Verluste ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen.
Gründe für höhere Verlustprognosen
Die Autoren von BAK Economics führen die höheren Zahlen auf eine gestiegene wirtschaftliche Verflechtung mit der EU seit 2020 zurück. Der technologische Wandel habe zudem den Wert der internationalen Arbeitsteilung erhöht, besonders in Bereichen, die intensiv in Forschung und Investitionen sind. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die höhere Bedeutung, die das Büro den Produktivitätseffekten durch die Zuwanderung Hochqualifizierter beimisst. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass ein Wegfall der Abkommen heute schwerwiegendere Folgen hätte als noch vor einigen Jahren.
„Die Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen sind ausgesprochen bedeutend. Die Verschlechterung des Marktzugangs zur EU und der hiesigen Standortqualität würde das Wachstumspotenzial schwächen.“
Die Studie prognostiziert zudem eine Zunahme der Arbeitslosenquote um 0,4 Prozentpunkte bis 2045, sollte es zu einem Ende der bilateralen Verträge kommen. Dies verdeutlicht die weitreichenden Konsequenzen für den Schweizer Arbeitsmarkt.
Methodik und Zustandekommen des Schadens
Die Forschungsbüros nutzen ähnliche methodische Ansätze, um die wirtschaftlichen Auswirkungen zu quantifizieren. Zunächst werden die Effekte in einzelnen Wirtschaftsbereichen bewertet. Ein Beispiel ist der Wegfall des Abkommens über den Abbau technischer Handelshemmnisse. Dies könnte dazu führen, dass Unternehmen ihre Produkte doppelt zertifizieren müssten – einmal für die Schweiz und einmal für die EU. Solche zusätzlichen Anforderungen könnten die Produktionskosten um 0,5 bis 1 Prozent erhöhen.
Hintergrund: Makroökonomische Modelle
Zur Abschätzung der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen verwenden die Büros komplexe makroökonomische Modelle. Diese Modelle bestehen aus Dutzenden von Gleichungen und Hunderten von Variablen. Sie simulieren, wie sich Veränderungen im Handel, Konsum und bei Investitionen auf die gesamte Wirtschaft auswirken. Dabei werden Annahmen zum Wirtschaftswachstum und zur Bevölkerungsentwicklung im Referenzszenario berücksichtigt.
Obwohl die Modelle von BAK Economics und Ecoplan im Detail unterschiedlich aufgebaut sind und auch bei den Annahmen Abweichungen bestehen, kommen beide Büros zu einer ähnlichen Einschätzung der Gesamtwirkung der Abkommen. Der grösste Effekt wird der Personenfreizügigkeit zugeschrieben. Bei BAK Economics trägt ihr Wegfall knapp die Hälfte zum Verlust auf BIP-Ebene bei, bei Ecoplan sogar deutlich mehr als die Hälfte.
Die anderen Abkommen sind einzeln betrachtet weniger gewichtig, tragen aber ebenfalls spürbar zum potenziellen BIP-Verlust bei. Dazu gehören Abkommen über technische Handelshemmnisse, den Luftverkehr und die Forschungszusammenarbeit mit der EU. Ihr Wegfall würde das Bruttoinlandprodukt in der Schweiz ebenfalls deutlich verringern.
Interpretation der Studienergebnisse
Die Autoren von BAK Economics betonen, dass der Nutzen des Gesamtpakets der bilateralen Verträge die Summe der einzelnen Abkommen übersteigt. Dies wird in ihrer Studie durch die Modellierung eines «systemischen Effekts» berücksichtigt. Dieser Effekt beschreibt, wie die Schweiz als Wirtschaftsstandort seit Inkrafttreten der bilateralen Verträge im Jahr 2002 attraktiver geworden ist, was sich in höheren Investitionen manifestiert.
Dieser «systemische Effekt» ist in der Studie von Ecoplan nicht in derselben Form enthalten. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass Ecoplan den Gesamtnutzen des Vertragspakets geringer einschätzt als BAK Economics. Die genauen Gründe für die Unterschiede um den Faktor zwei bis drei sind im Detail schwer zu ermitteln. Beide Büros weisen darauf hin, dass ihre Schätzungen mit Unsicherheiten behaftet sind und nicht als exakte Prognosen verstanden werden sollten.
Trotz der Unterschiede in den Zahlen herrscht Einigkeit bezüglich der generellen Interpretation. Die präsentierten Zahlen stellen die langfristigen Folgen dar, die sich bei einer plötzlichen Kündigung der bilateralen Verträge ergeben könnten. Sie umreissen somit einen möglichen «Worst Case», der eintreten könnte, wenn die Schweiz das neue EU-Vertragspaket – die sogenannten Bilateralen III – nicht unterzeichnet. In diesem Szenario könnten die Bilateralen I schrittweise hinfällig werden, sofern die Schweiz nicht rechtzeitig eine alternative Lösung aushandelt, die Teile der Verträge ersetzt.
Die Studien liefern damit wichtige Anhaltspunkte für die politische Debatte über die zukünftige Gestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Sie verdeutlichen die wirtschaftlichen Risiken, die mit einem Abbruch der bestehenden vertraglichen Bindungen verbunden wären.