Das Dreispitzareal in Basel, einst ein reines Industrie- und Gewerbegebiet, wandelt sich zunehmend zu einem lebendigen Kulturraum. Internationale Urban-Art-Künstler verwandeln graue Betonfassaden in grossflächige Kunstwerke und machen das Quartier zu einem öffentlichen Museum, das rund um die Uhr zugänglich ist.
Angeführt wird diese Transformation von Initiativen wie dem Verein Artstübli, der Künstler mit Liegenschaftsbesitzern zusammenbringt. Eines der bekanntesten Werke zeigt das Gesicht eines lokalen Arbeiters und symbolisiert den Wandel des Areals, in dem Kunst und Arbeit eine neue Verbindung eingehen.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Dreispitzareal entwickelt sich durch Urban Art von einem Industriegebiet zu einem kulturellen Anziehungspunkt.
- Der Verein Artstübli, geleitet von Philipp Brogli, kuratiert Projekte mit internationalen Künstlern.
- Ein markantes Werk des deutschen Künstlers Hendrik Beikirch porträtiert den Lagerarbeiter Mario und ehrt die Menschen, die im Areal arbeiten.
- Geführte Touren machen die oft versteckten Kunstwerke und ihre Geschichten für die Öffentlichkeit zugänglich.
Ein Gesicht für die unsichtbaren Helden
Wer das Dreispitzareal betritt, dem fällt ein riesiges Gesicht an einer Betonwand des Gebäudes J der Christoph-Merian-Stiftung ins Auge. Es sind die Züge eines Mannes, dessen Blick nachdenklich in die Ferne schweift. Falten um die Augen und den Mund zeugen von einem langen Arbeitsleben. Dieser Mann ist Mario, ein Lagerarbeiter, der seit Jahrzehnten hier tätig ist.
Das monumentale Porträt stammt vom deutschen Künstler Hendrik Beikirch. Er ist international bekannt dafür, die Gesichter von unbekannten, alltäglichen Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeit zu stellen. Bevor das Werk entstand, verbrachte Beikirch mehrere Tage im Areal, sprach mit den Arbeitern und fotografierte sie. Seine Wahl fiel auf Mario, dessen Gesicht nun stellvertretend für die vielen Menschen steht, die das industrielle Herz des Dreispitz am Laufen halten.
Seit 2019 blickt Mario nun über das Gelände. Das Werk macht die Menschen sichtbar, die sonst im Hintergrund agieren. Es verleiht dem Areal eine menschliche Dimension und schafft eine Brücke zwischen der industriellen Vergangenheit und der kreativen Zukunft.
Wer ist Hendrik Beikirch?
Hendrik Beikirch, auch bekannt als ECB, ist ein deutscher Urban-Art-Künstler, der sich auf grossformatige fotorealistische Porträts spezialisiert hat. Seine Werke finden sich an Fassaden auf der ganzen Welt. Sein Fokus liegt auf der Darstellung von Charakteren und Geschichten anonymer Menschen, die er auf seinen Reisen trifft. Er möchte damit die Würde und die Persönlichkeit des Einzelnen hervorheben, der oft in der Masse untergeht.
Die Vision von Artstübli und Philipp Brogli
Hinter vielen dieser Kunstprojekte im Dreispitz und in ganz Basel steht Philipp Brogli, Direktor des Artstübli Basel. Seit 2014 bietet seine Galerie eine Plattform für urbane Kunst. Mit dem Projekt «Artyou Walls» vermittelt er nationale und internationale Künstler an Liegenschaftsbesitzer, die ihre Fassaden zur Verfügung stellen.
«Wir wollen den internationalen Aspekt und die Qualität nach Basel holen», erklärt Brogli. «Die Leute hier in der Region sollen erfahren, wer hinter den Werken steckt.» Dabei handelt es sich nicht um Auftragsarbeiten im klassischen Sinn. Die Künstler behalten ihre kreative Freiheit und entscheiden selbst, was sie an die Wand bringen. Das Projekt wird unter anderem vom Lotteriefonds Basel/Baselland und der Christoph-Merian-Stiftung unterstützt.
«Das zeigt, diese Werke haben Bestand und fügen sich in den Kontext des urbanen Raums ein.» - Philipp Brogli
Die Vereinbarungen mit den Eigentümern sehen vor, dass die Kunstwerke für mindestens fünf Jahre erhalten bleiben. Viele, wie das Porträt von Mario, bestehen jedoch deutlich länger. Für Brogli ist die Stadt eine «Freiluftgalerie», ein «urbanes öffentliches Museum», das für jeden zugänglich ist.
Ein Spaziergang durch das urbane Museum
Um die Kunst im Dreispitz zu entdecken, bietet Brogli zusammen mit anderen Guides regelmässig Urban-Art-Touren an. Diese rund eineinhalbstündigen Spaziergänge führen zu bekannten, aber auch zu versteckten Werken und erzählen die Geschichten hinter der Kunst und den Künstlern.
Digitale Störungen im realen Raum
Ein Beispiel für die konzeptuelle Kunst im Areal findet sich am Haus der elektronischen Künste (HEK). Dort hat die Künstlergruppe «Mediengruppe Bitnik» einen sogenannten «Glitch» in die Architektur eingebaut. Ein Stück Dachrinne und Geländer sind bewusst versetzt montiert, als wäre die Realität selbst ein fehlerhaftes Computerprogramm. Es ist eine subtile Intervention, die den Betrachter zum Nachdenken über die Vermischung von digitaler und physischer Welt anregt.
Was ist ein «Dead Drop»?
Am selben Gebäude befindet sich eine weitere versteckte Installation des Künstlers Aram Bartholl: ein USB-Anschluss, der direkt in der Wand verbaut ist. Dieses Konzept, bekannt als «Dead Drop», entstand in New York. Jeder kann seinen Laptop anschliessen, Daten hinterlassen oder Dateien von anderen herunterladen. Das Werk wirft Fragen zur Datensicherheit, Anonymität und zum öffentlichen digitalen Austausch auf.
Von Typografie bis zu Verkehrsschildern
Die Vielfalt der Stile auf dem Areal ist gross. Ein bunt bemalter Turm zieht die Blicke auf sich. Er wurde vom niederländischen Künstler Jeroen Erosie gestaltet. Seine Arbeit basiert auf der Formensprache von Graffiti und Typografie. Er lässt sich von urbanen Strukturen wie Brückenpfeilern inspirieren und übersetzt deren Linien in abstrakte Kompositionen.
An anderer Stelle findet sich eine Installation des spanischen Künstlers Spy. Er hat eine ganze Ansammlung von Verkehrsschildern an einer Fassade montiert, die er selbst im Flugzeug von Madrid nach Basel transportierte. Das Werk spielt mit der Allgegenwart von Symbolen im öffentlichen Raum und stellt deren Autorität in Frage.
Mehr als nur Farbe an der Wand
Die Urban-Art-Touren zeigen nicht nur Kunst, sondern auch die Transformation des Dreispitzareals selbst. Das ehemalige Zollfreilager ist heute ein Ort, an dem sich Industrie, Kunstinstitutionen, Ateliers und innovative Kleinbetriebe treffen.
Orte wie die Brauerei «Bierrevier», die «Fahrbar», das junge Schreibhaus «Wortstellwerk» oder die Materialverwertung «OFFCUT» tragen zur neuen Identität des Quartiers bei. Die Kunst an den Wänden ist dabei mehr als nur Dekoration. Sie ist ein sichtbares Zeichen dieses Wandels und ein Motor für die weitere Entwicklung.
Philipp Brogli hat bereits die nächsten Wände im Blick. Mit seiner «Wand-Kartei» sucht er ständig nach neuen Flächen für zukünftige Projekte. Die Freiluftgalerie im Dreispitz wächst stetig weiter und lädt dazu ein, ein bekanntes Basler Quartier mit neuen Augen zu entdecken.





