Das Literaturhaus Basel empfängt im Rahmen des Festivals Culturescapes zwei bedeutende Autorinnen: Amira Ghenim aus Tunesien und Deena Mohamed aus Ägypten. Beide Künstlerinnen sind in ihren Heimatländern preisgekrönt und präsentieren ihre Werke, die sich mit den komplexen Spannungen zwischen Tradition und Moderne in ihren Gesellschaften auseinandersetzen. Die Veranstaltung findet am Freitag, 24. Oktober, ab 19 Uhr statt und bietet Einblicke in ihre literarische Arbeit und ihre Perspektiven auf aktuelle gesellschaftliche Fragen.
Wichtige Punkte
- Amira Ghenim und Deena Mohamed sind am 24. Oktober im Literaturhaus Basel zu Gast.
- Beide Autorinnen wurden in ihren Sprachräumen mit renommierten Preisen ausgezeichnet.
- Ghenims Roman beleuchtet den gesellschaftlichen Wandel Tunesiens im 20. Jahrhundert.
- Mohameds Graphic Novel thematisiert individuelle Freiheit und kollektive Normen in Ägypten.
- Die Werke beider Autorinnen setzen sich kritisch mit den Widersprüchen ihrer Gesellschaften auseinander.
Amira Ghenim: Tunesiens gesellschaftlicher Wandel im Roman
Amira Ghenim ist Linguistin und Dozentin an der Universität von Sousse in Tunesien. Seit 2011, so erzählt sie der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, fühlte sie sich von der akademischen Sprache eingeengt. Sie verspürte das Bedürfnis, anders zu schreiben, insbesondere angesichts des Aufstiegs des Fundamentalismus und der Bedrohungen von Freiheiten, vor allem jener der Frauen.
„Mit dem Aufstieg des Fundamentalismus und den Bedrohungen unserer Freiheiten, insbesondere jene der Frauen, verspürte ich das Bedürfnis, anders zu schreiben.“
– Amira Ghenim
Ihr zweites Buch, ein halb historischer Roman und halb Familiensaga, zeichnet den gesellschaftlichen Wandel Tunesiens im 20. Jahrhundert über vier Generationen nach. Es verbindet reale und fiktive Figuren. Die französische Übersetzung «Le désastre de la maison des notables» (2024) wurde mit dem Prix de la littérature arabe ausgezeichnet. Das arabische Original aus dem Jahr 2021 stand auf der Shortlist des Arabic Booker Prize. In der Schweiz ist das Werk auf Französisch, Englisch und Italienisch erhältlich.
Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne
Ghenims Roman konzentriert sich auf zwei einflussreiche Familien: die konservativen Naifers und die progressiven Rassaas, sowie deren Bedienstete. Ghenim ist von diesem grossbürgerlichen Milieu fasziniert, da es sich als Hüter der Werte, der Seriosität, des 'guten Geschmacks' und der tunesischen Modernität versteht. Hier bündeln sich die tunesischen Widersprüche.
Fakten zu Ghenims Werk
- Titel der französischen Übersetzung: «Le désastre de la maison des notables» (2024)
- Auszeichnung: Prix de la littérature arabe
- Arabisches Original: Auf der Shortlist des Arabic Booker Prize (2021)
- Thema: Gesellschaftlicher Wandel Tunesiens im 20. Jahrhundert
Die Gesellschaft möchte westlich sein, ohne die Tradition zu verlieren. Sie möchte liberal erscheinen, ohne das Patriarchat aufzugeben. Sie gibt sich aufgeklärt, schaut jedoch bei Ungerechtigkeiten weg. Als Akademikerin hat Ghenim diese Spannungen in gesellschaftlichen Diskursen lange beobachtet. Als Romanautorin nutzt sie dieses Milieu als Laboratorium für die Geschichte des Landes.
„Hinter den ehrbaren Fassaden und den grossen Reden verbirgt sich oft ein intimes Desaster, eine stille Gewalt. Das wollte ich hinterfragen, nicht um zu urteilen, sondern um zu verstehen.“
– Amira Ghenim
Wissenschaftliche Diskurse können Schweigen, Angst, Scham oder verletzte Erinnerungen nicht immer erfassen. Ghenim betont, dass die heutigen identitären, religiösen und sozialen Spannungen eine Fortsetzung dessen sind, was kollektiv verdrängt wurde. Sie nutzt die Vergangenheit, um die Gegenwart zu beleuchten und ihre Sackgassen aufzudecken. Sie glaubt, dass ungelöste Altlasten wie die Wunden des Kolonialismus, die Heuchelei der Moderne und die Angst vor der Freiheit in der Gesellschaft weiterwirken.
Tunesisches Paradoxon
Amira Ghenim beschreibt die tunesische Gesellschaft als modern, aufgeklärt und fortschrittlich, aber gleichzeitig sehr konservativen familiären und mentalen Strukturen verhaftet. Dieses "tunesische Paradoxon" zeigt, dass die jüngsten politischen Umwälzungen nur die Oberfläche einer tieferliegenden Mentalitätsänderung darstellen.
Deena Mohamed: Individuelle Freiheit in der Graphic Novel
Dieses tunesische Paradoxon beschäftigt auch die ägyptische Comiczeichnerin und Illustratorin Deena Mohamed. Mit 18 Jahren schuf sie den Webcomic «Qahera the Superhero». Diese Superheldin, erkennbar muslimisch, bekämpft Islam- und Frauenfeindlichkeit. Nach ihrem Studium gewann Mohamed mit ihrer ursprünglich selbst publizierten Graphic-Novel-Trilogie «Shubeik Lubeik» den Best Graphic Novel Award und den Grand Prize beim Cairo Comix Festival.
Die Trilogie wurde seitdem auf Arabisch publiziert und ins Englische sowie in weitere Sprachen übersetzt. Eine deutsche Übersetzung erscheint im Jahr 2025. In «Shubeik Lubeik. Dein Wunsch ist mir Befehl» sind Wünsche buchstäblich käuflich. Doch nur die teuren Wünsche erfüllen sich erwartungsgemäss. Mohamed erzählt die Geschichten von drei Menschen, die solche Wünsche an einem Kiosk in Kairo kaufen.
- Aziza: Eine Witwe, die gegen ungerechte Regeln und soziale Ungleichheit kämpft.
- Nour: Eine privilegierte Studentin, die heimlich unter Depressionen leidet und entscheiden muss, ob sie ihren Wunsch zur "Heilung" nutzen soll.
- Shokry: Er ringt mit seinem Glauben, als er vor der Frage steht, wie er einem Freund helfen kann, der einen Wunsch nicht einsetzen will.
Verbindung von Freiheit und Normen
Die Auseinandersetzung mit individueller Freiheit und kollektiven Normen verbindet die beiden Autorinnen. Neben ihren Graphic Novels arbeitet Mohamed als freiberufliche Illustratorin. Sie ist unter anderem für Harassmap und das Center for Applied Human Rights tätig. Auch hier setzt sie sich für muslimische und feministische Werte ein.
Fakten zu Mohameds Werk
- Webcomic: «Qahera the Superhero» (bekämpft Islam- und Frauenfeindlichkeit)
- Graphic Novel: «Shubeik Lubeik»-Trilogie
- Auszeichnungen: Best Graphic Novel Award, Grand Prize beim Cairo Comix Festival
- Deutsche Übersetzung: Erscheint 2025
Ghenim möchte in ihren Büchern ein Tunesien zeigen, das denkt, zweifelt und schafft. Ein Tunesien, das eine identitäre Abschottung ablehnt. Sie beschreibt es als ein anderes Tunesien als das der Zeitungen. Ein Tunesien, das liest, schreibt und diskutiert. Ein offenes Tunesien, das der Freiheit verpflichtet ist und in dem Frauen schon immer eine zentrale Rolle gespielt haben, auch wenn das unbequem ist.
Die Werke beider Autorinnen bieten tiefe Einblicke in die Herausforderungen und Hoffnungen ihrer Gesellschaften. Sie zeigen, wie Literatur dazu beitragen kann, komplexe Themen zu beleuchten und zum Nachdenken anzuregen. Das Festival Culturescapes ermöglicht dem Basler Publikum, diese wichtigen Stimmen zu entdecken und sich mit den Geschichten und Perspektiven aus Tunesien und Ägypten auseinanderzusetzen.
Die Veranstaltung im Literaturhaus Basel ist eine Gelegenheit, die kulturelle Vielfalt und die literarische Stärke dieser Regionen kennenzulernen. Es wird erwartet, dass die Diskussionen über die Werke von Ghenim und Mohamed wichtige Impulse für das Verständnis der aktuellen globalen und lokalen Debatten geben.