In Basel trafen sich führende Denker der Kritischen Theorie, um den weltweiten Aufstieg autoritärer Tendenzen und Rechtspopulismus zu beleuchten. Die dreitägige Konferenz mit dem Titel «Gegenmoderne» suchte nach Erklärungen für die aktuelle globale Entwicklung. Dabei wurden komplexe gesellschaftliche Widersprüche und tief sitzende Ängste als zentrale Ursachen identifiziert.
Wichtigste Erkenntnisse
- Der Aufstieg autoritärer Tendenzen resultiert aus gesellschaftlichen Widersprüchen, insbesondere im Neoliberalismus.
- Einfache, unterkomplexe Lösungsansätze von Rechtspopulisten wirken attraktiv in komplexen Zeiten.
- Die Angst vor dem Überflüssigwerden und dem "Grossen Austausch" treibt Wähler zu rechten Parteien.
- Klaus Theweleit sieht Faschismus als Kompensation von Entwicklungsdefiziten.
- Die Linke muss neue, positive Angebote entwickeln, um auf diese Ängste zu reagieren.
Ursachen des globalen Backlash
Die Konferenz in Basel versammelte eine Reihe renommierter Wissenschaftler, darunter die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, die kürzlich das Buch «Zerstörungslust» veröffentlichten. Die Diskussionen konzentrierten sich auf die Frage, wie die liberalen Demokratien weltweit unter Druck geraten sind und welche Faktoren den Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und den USA begünstigen.
Ein zentraler Punkt war die Attraktivität von unterkomplexen Lösungen, die von rechten Bewegungen angeboten werden. Figuren wie Donald Trump oder die sogenannten "Tradwifes" symbolisieren eine Sehnsucht nach einfacheren Zeiten. Diese Angebote ermöglichen eine Flucht aus der komplexen Realität moderner Gesellschaften.
Faktencheck: Jordan Peterson
Der kanadische Psychologe Jordan Peterson empfiehlt seinen Zuhörern, oft weissen Männern aus der Mittelschicht, in Krisensituationen ihre "Sockenschublade aufzuräumen". Diese einfachen Ratschläge füllen bis heute grosse Hallen, was die Sehnsucht nach simplen Anleitungen in komplexen Zeiten verdeutlicht.
Die Schweizer Philosophin Rahel Jaeggi, zugeschaltet aus Yale, bezeichnete diese Entwicklung als eine "Krise der Krisenbewältigung". Laut Jaeggi entsteht der globale Backlash aus den Widersprüchen moderner Gesellschaften selbst. Diese Widersprüche wurden in Basel vor allem im Neoliberalismus verortet, dessen Versprechen nach der Finanzkrise von 2008 als gescheitert galten. Jaeggi interpretierte die "Gegenmoderne" als einen defizitären Umgang mit Krisen, einen "Verrat am Möglichen", wie es Theodor W. Adorno formulierte.
Angst vor dem Überflüssigwerden
Ein wiederkehrendes Thema der Konferenz war die Frage, warum viele Wählerinnen und Wähler sich von progressiven Ideen abwenden und stattdessen politische Richtungen unterstützen, die ihren eigenen Interessen scheinbar widersprechen. Ein Beispiel hierfür sind Steuererleichterungen für Superreiche, die von vielen rechten Parteien gefördert werden, obwohl sie breite Bevölkerungsschichten nicht direkt begünstigen.
"Die Angst vor dem Überflüssigwerden ist eine treibende Kraft hinter der Hinwendung zu rechten Parteien. Menschen, die sich in einer sich schnell wandelnden Welt bedroht fühlen, suchen nach einfachen Antworten und Schutz."
Der Soziologe Simon Schaupp präsentierte Ergebnisse einer Studie mit Schweizer Bauarbeitern zum Klimaschutz. Obwohl diese Arbeiter direkt von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, etwa durch Hitzestress oder wetterbedingte Arbeitsausfälle, lehnen sie Klimaschutzmassnahmen und die Klimabewegung vehement ab. Ein befragter Bauarbeiter erklärte diese Ablehnung damit, dass die Gesellschaft insgesamt "extrem geworden" sei, und führte Drag Queens im Sexualkundeunterricht als Beispiel an. Der Klimaaktivismus sei "genauso extrem".
Schaupp deutete diese Reaktion als Symptom einer tiefer liegenden Angst vor Nutzlosigkeit. Die Bauarbeiter lehnen Veränderungen ab, die ihren Status quo infrage stellen könnten. Ein Beispiel war die Umstellung auf Elektrobagger, die laut einem Befragten die Arbeitszeit auf nur drei Stunden pro Tag reduzieren würde. Diese Angst vor dem Überflüssigwerden wurde auch von Rahel Jaeggi in ihrem Eröffnungsvortrag als zentrales Motiv bei jenen identifiziert, die einen "Grossen Austausch" fürchten und sich durch Migration bedroht fühlen.
Hintergrund: Kritische Theorie
Die Kritische Theorie, oft mit der Frankfurter Schule verbunden, analysiert gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ideologien. Sie hinterfragt bestehende Strukturen und sucht nach Wegen zur gesellschaftlichen Emanzipation. Ihre Vertreter versuchen, die Ursachen gesellschaftlicher Probleme nicht nur zu beschreiben, sondern auch kritisch zu beleuchten und mögliche Auswege aufzuzeigen.
Faschistische Fantasien und Geschlechterrollen
Die Konferenz, veranstaltet von der Universität Basel, dem Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Goethe-Universität, vereinte überwiegend politisch links orientierte Akademiker. Klaus Theweleit, der renommierte Theoretiker der "toxischen Männlichkeit", war Gast eines Abendpanels. Er stellte die Thesen seiner fast fünfzig Jahre alten Studie «Männerfantasien» vor, die sich mit der protofaschistischen Freikorpsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg befasst.
Theweleit, heute 83 Jahre alt, hatte vor einigen Jahren eine Rückkehr des Faschismus ausgeschlossen. Er gab jedoch zu, sich "einwandfrei geirrt" zu haben, ein Zitat aus einem Gedicht von Gottfried Benn. Er argumentierte, dass auch Figuren wie Donald Trump von "Angst und Scheisse" angefüllt seien, was seiner These entspricht, dass Faschismus eine Kompensation von Entwicklungsdefiziten darstellt.
Auf die Frage nach rechten Politikerinnen wie Giorgia Meloni, Marine Le Pen und Alice Weidel antwortete Theweleit, dass auch Frauen Entwicklungsdefizite oder "nicht zu Ende geborene Körper" haben könnten, die in faschistische Fantasien umschlagen. Diese Aussage führte zu weiteren Diskussionen über die Rolle von Geschlechteridentitäten in autoritären Bewegungen.
- Klaus Theweleits "Männerfantasien" erschien vor fast 50 Jahren.
- Die Studie analysierte die protofaschistische Freikorpsbewegung.
- Theweleit revidierte seine Einschätzung zur Rückkehr des Faschismus.
Die Herausforderung für die Linke
Die Zürcher Slavistin Sylvia Sasse wies die These der "Zeit" zurück, die Linke sei mitschuld am Aufstieg autoritärer Tendenzen. Sie argumentierte, dass die Kritik an "Woken" Teil eines "Masternarrativs" rechtspopulistischer Kreise sei, um die Linke zum Sündenbock zu machen.
Offen blieb die zentrale Frage: Welche politische Antwort kann die Linke auf den Backlash finden? Wenn Urängste so leicht zu bewirtschaften sind und der Lustgewinn beim Angriff auf die liberale Demokratie so gross ist, dass immer mehr Wähler rechte Parteien wählen, braucht es neue Strategien. Eine Teilnehmerin formulierte das Dilemma der Kritischen Theorie: Während die Rechte grosse Versprechen für eine bessere Zukunft mache – wie Elon Musks Vision einer Marsbesiedlung –, würden die verfeinerten Theorien der Konferenz oft nur in kleinen, ökologischen Nischen funktionieren, in denen "alte Radios repariert" werden.
Diese emotionale Diskussion im Hörsaal zeigte die Dringlichkeit, positive Gegenvorschläge zu entwickeln. Wenn der Backlash von "Zerstörungslust" angetrieben wird, wie Nachtwey und Amlinger argumentieren, müsste das linke Angebot dann nicht ebenfalls lustvoll, ja lustmaximierend sein, aber im positiven Sinne? Ein zukünftiger Kongress sollte an dieser Frage ansetzen: Wie können konkrete Gegenvorschläge auf die Widersprüche moderner Gesellschaften formuliert werden, um den Zukunftshorizont wieder zu öffnen?
Statistik zur Polarisierung
Laut einer aktuellen Umfrage fühlen sich über 60% der europäischen Bevölkerung von den schnellen gesellschaftlichen Veränderungen überfordert. Dies trägt zur Anfälligkeit für einfache, aber radikale politische Botschaften bei.
Ausblick und nächste Schritte
Die Basler Konferenz hat die Komplexität des globalen Backlash deutlich gemacht. Sie hat gezeigt, dass die Ursachen tief in gesellschaftlichen Ängsten und ungelösten Widersprüchen liegen. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Erkenntnisse in handlungsfähige politische Strategien umzusetzen.
Experten fordern, dass die Linke nicht nur analysiert, sondern auch konkrete Visionen für die Zukunft präsentiert, die Menschen Hoffnung geben und ihre Ängste adressieren. Dies erfordert eine Abkehr von rein defensiven Positionen hin zu einer proaktiven Gestaltung des gesellschaftlichen Diskurses. Nur so kann der "Verrat am Möglichen" überwunden und ein neuer Weg für liberale Demokratien gefunden werden.