Am Basler Luzernerring entsteht ein bemerkenswertes Wohnprojekt. Ein Investor und der Mieterverband haben sich direkt auf moderate Mieten für einen Ersatzneubau geeinigt, noch bevor die zuständige Kommission eingeschaltet wurde. Dieses Vorgehen könnte die Art und Weise, wie in Basel gebaut wird, nachhaltig verändern.
Die Vereinbarung zwischen der Lausanner Immobilienfirma Realstone und dem Mieterverband Basel-Stadt sichert bezahlbaren Wohnraum in einem Neubau, wirft aber auch Fragen zur Zukunft grosser Familienwohnungen und zur Rolle staatlicher Aufsichtsbehörden auf.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Investor und der Mieterverband einigen sich direkt auf moderate Mieten für einen Neubau am Luzernerring.
- 43 neue, kleinere Wohnungen ersetzen acht grosse Familienwohnungen.
- Die Mieten für die geschützten Wohnungen liegen zwischen 900 und 1500 Franken.
- Dieses Vorgehen umgeht die kantonale Wohnschutzkommission und schafft einen neuen Präzedenzfall.
Ein ungewöhnlicher Pakt für bezahlbaren Wohnraum
Am Luzernerring 91 und 93 werden bald die Bagger auffahren. Die beiden Wohnhäuser aus den 1950er-Jahren, die die Investmentgesellschaft Realstone im Jahr 2019 erworben hat, sollen abgerissen werden. An ihrer Stelle ist ein modernes Gebäude geplant, das die Anzahl der Wohnungen mehr als verfünffacht.
Normalerweise würde ein solches Vorhaben einen langen Rechtsstreit nach sich ziehen. Der Basler Mieterverband (MV) ist bekannt dafür, sich vehement gegen den Abriss von günstigem Wohnraum zu wehren. Doch in diesem Fall ist alles anders. Statt einer Konfrontation vor Gericht gab es eine direkte Verhandlung zwischen dem Investor und den Mietervertretern.
Das Ergebnis ist eine schriftliche Vereinbarung, die dem neuen Baugesuch beiliegt. Sie legt die zukünftigen Mieten für einen Grossteil der neuen Wohnungen fest und schafft damit Fakten, noch bevor die Wohnschutzkommission (WSK) den Fall überhaupt prüfen konnte.
Die Details der Vereinbarung
Die Einigung sieht vor, dass die Mieten für die neuen Wohnungen bewusst tief gehalten werden. Konkret wurden folgende Preise festgelegt:
- 1½-Zimmer-Wohnungen: 900 Franken pro Monat
- 2½-Zimmer-Wohnungen: 1200 Franken pro Monat
- 3½-Zimmer-Wohnungen: 1500 Franken pro Monat
Diese Preise gelten für 26 der insgesamt 43 geplanten Wohnungen. Dies sind jene Einheiten, die als offizieller Ersatz für den verloren gehenden Wohnraum gelten und somit unter den gesetzlichen Wohnschutz fallen. Für die restlichen 17 Wohnungen plant Realstone, «quartiersübliche Marktmieten» zu verlangen.
Was ist die Wohnschutzkommission?
Die Wohnschutzkommission (WSK) ist eine kantonale Behörde in Basel-Stadt. Ihre Aufgabe ist es, bei Abbruch- und Sanierungsprojekten sicherzustellen, dass genügend bezahlbarer Wohnraum erhalten bleibt oder geschaffen wird. Sie prüft Baugesuche und kann Bedingungen für die Neumieten festlegen, um die Verdrängung von Mietern zu verhindern. Die Initiative zur Schaffung dieser Kommission kam ursprünglich vom Mieterverband.
Veränderte Strategie auf dem Wohnungsmarkt
Für Realstone ist dieser kooperative Ansatz Teil einer bewussten Strategie. «Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine solche Vereinbarung treffen», erklärte Mirko Martino, Kommunikationschef des Unternehmens. Man habe bei einem Projekt im Kanton Waadt bereits ähnliche Erfahrungen gemacht.
«Als institutionelle Eigentümerin betrachten wir es auch als unsere Aufgabe, Wohnungen zu moderaten Mieten auf den Markt zu bringen», so Martino weiter.
Die moderaten Mieten seien von Anfang an in die Renditeberechnungen eingeflossen. Das Unternehmen betont zudem, dass es keine Pläne gebe, die Mieten nach Ablauf der fünfjährigen Mietzinskontrolle stark zu erhöhen.
Für den Mieterverband ist der Deal ein strategischer Erfolg, auch wenn er sich zu den Details der Verhandlungen nicht äussern möchte. In seinem Jahresbericht wird der Fall Luzernerring als positives Beispiel aufgeführt. Durch seine konsequente Einsprachepraxis hat sich der Verband eine Machtposition erarbeitet, die es ihm ermöglicht, direkt mit Investoren auf Augenhöhe zu verhandeln. In Fällen wie diesem wird die staatliche Wohnschutzkommission praktisch überflüssig.
Vom Familienheim zum Mikro-Apartment
Die Transformation am Luzernerring spiegelt einen stadtweiten Trend wider. Die bisherigen Gebäude beherbergten acht grosszügige Familienwohnungen. Der Neubau wird 43 deutlich kleinere Einheiten umfassen.
- Verschwinden: 8 grosse Wohnungen (z.B. 5 Zimmer für 1700 Franken)
- Entstehen: 43 neue Wohnungen (1½ bis 3½ Zimmer)
- Kleinste Einheit: 27,5 Quadratmeter
Realstone begründet diesen Schritt mit der sehr hohen Nachfrage nach kleineren Stadtwohnungen in Basel.
Die Kehrseite der Medaille
Während die Schaffung von neuem, preislich moderatem Wohnraum begrüsst wird, hat das Projekt auch eine Schattenseite. Der Abriss führt zum endgültigen Verlust von grossen und für Familien bezahlbaren Wohnungen. Dieser Trend ist in vielen Schweizer Städten zu beobachten und verschärft die Wohnungsnot für Familien mit mittlerem Einkommen.
Ein weiterer Punkt, der in der Vereinbarung offenbar keine zentrale Rolle spielte, ist die Nachhaltigkeit. Der Mieterverband fordert bei Abbruchprojekten regelmässig eine umfassende CO₂-Bilanz, um die sogenannte «graue Energie» zu berücksichtigen – also die Energie, die im bestehenden Gebäude gespeichert ist.
Im Baugesuch für den Luzernerring finden sich zu diesem Aspekt keine speziellen Abmachungen. Realstone verweist auf Standardmassnahmen wie Photovoltaikanlagen auf dem Dach, die Verwendung von Recyclingbeton und eine begrünte Fassade. Ob dies den ökologischen Forderungen des Mieterverbands vollständig entspricht, bleibt offen.
Ein Modell für die Zukunft?
Der Fall Luzernerring zeigt, dass direkte Verhandlungen zwischen Investoren und Mieterorganisationen zu schnellen und für beide Seiten tragbaren Lösungen führen können. Projekte werden weniger durch langwierige Einsprachen blockiert, und gleichzeitig entsteht preislich kontrollierter Wohnraum.
Dieses Vorgehen könnte Schule machen und die Rolle der Wohnschutzkommission in Basel neu definieren. Statt als Schiedsrichterin zu agieren, könnte sie in Zukunft häufiger vor vollendete Tatsachen gestellt werden, die von den Marktteilnehmern selbst ausgehandelt wurden.
Offen bleibt jedoch, wie gesamtgesellschaftliche Interessen wie der Erhalt von Familienwohnungen oder ambitionierte Klimaschutzziele in diesen bilateralen Deals berücksichtigt werden. Der Kompromiss am Luzernerring ist ein Gewinn für Singles und Paare, die eine kleine, moderne Wohnung suchen. Für Familien auf Wohnungssuche in Basel ist er ein weiterer Rückschlag.





