Ein neues Verkehrsgutachten der ETH Zürich, beauftragt vom Bundesrat, sorgt für Diskussionen in der Region Basel. Die Experten empfehlen den Bau des Rheintunnels zur Verkehrsentlastung, stufen das langjährige Prestigeprojekt Herzstück jedoch als nicht vordringlich ein. Die Studie «Verkehr 2045» schlägt stattdessen gezielte und schnell umsetzbare Verbesserungen für die S-Bahn und das Tramnetz vor.
Die Analyse von Professor Ulrich Weidmann und Michael Nold bewertet die grossen Infrastrukturvorhaben der Region neu und gibt klare Empfehlungen für die Verkehrsplanung bis zum Jahr 2045. Während einige Projekte hohe Priorität erhalten, werden andere auf einen späteren Zeitpunkt verschoben oder gänzlich verworfen.
Die wichtigsten Erkenntnisse
- Der Rheintunnel wird als zentrales Projekt zur Trennung von Fern- und Lokalverkehr eingestuft und klar befürwortet.
- Das Herzstück-Projekt erhält die niedrigste Priorität und soll erst nach 2045 in Betracht gezogen werden.
- Kleinere, kostengünstigere Ausbauten der S-Bahn-Infrastruktur werden als vordringlich empfohlen.
- Der Ausbau des Basler Tramnetzes, einschliesslich der Verlängerung nach Weil am Rhein, erhält höchste Priorität.
Rheintunnel als Lösung für Verkehrsprobleme
Obwohl die Schweizer Stimmbevölkerung im November 2023 einen generellen Ausbau des Autobahnnetzes ablehnte, kommt das ETH-Gutachten zu einem anderen Schluss für Basel. Die Experten betonen die strategische Bedeutung des Rheintunnels für die gesamte Region.
Die Studie argumentiert, dass der Tunnel nicht nur die Kapazitätsengpässe auf der überlasteten Osttangente der A2 beheben würde, sondern auch eine entscheidende Funktion erfüllt: die klare Trennung des internationalen Transitverkehrs vom regionalen und städtischen Verkehr. Diese Entflechtung wird als Schlüssel zur Lösung der täglichen Stauproblematik gesehen.
«Der Rheintunnel erweist sich in der vergleichenden Betrachtung als Projekt, das nicht nur die Kapazitätsengpässe an dieser neuralgischen Stelle behebt, sondern vor allem auch den Fernverkehr klar vom regionalen und städtischen Verkehr trennt.»
Laut den Verfassern würde die Realisierung des Tunnels die Stadt Basel erheblich vom Durchgangs- und Ausweichverkehr entlasten. Dies schaffe neue verkehrliche und städtebauliche Möglichkeiten, die ohne dieses Bauwerk nicht realisierbar wären.
Hintergrund der Abstimmung
Am 24. November 2023 lehnte die Schweiz den Ausbau der Nationalstrassen mit 52 Prozent Nein-Stimmen ab. In Basel-Stadt betrug die Ablehnung sogar 56 Prozent, in der direkt betroffenen Gemeinde Birsfelden 64 Prozent. Das Votum stoppte vorerst die Planungen für den Rheintunnel, obwohl es seither politische Bestrebungen gibt, das Projekt wieder aufzunehmen.
Herzstück: Ein «interessanter Ansatz» für die ferne Zukunft
Das Herzstück, eine seit rund 25 Jahren diskutierte unterirdische Bahnverbindung zwischen dem Bahnhof SBB und dem Badischen Bahnhof, erfährt im Gutachten eine deutliche Zurückstufung. Politiker der Nordwestschweiz hatten sich vehement für das Projekt eingesetzt, doch die Analyse der ETH-Experten dämpft die Erwartungen erheblich.
Mit geschätzten Kosten von 14 Milliarden Franken und einem möglichen Realisierungszeitpunkt um das Jahr 2080 wird das Projekt als äusserst aufwendig bewertet. Die Studie weist dem Herzstück die tiefste Prioritätsstufe 6 zu.
Die Autoren schreiben, das Projekt könne «nach gegenwärtiger Planung aus technischen Gründen nicht mehr im Priorisierungshorizont 2025 bis 2045 in Angriff genommen werden». Die Formulierung, es handle sich um einen «konzeptionell interessanten Ansatz», wird nach jahrzehntelanger Planung von vielen als deutliche Kritik verstanden.
Risiken und Empfehlungen
Die Studie warnt vor erheblichen zeitlichen und finanziellen Risiken beim Herzstück. Die klare Empfehlung lautet, das Projekt auf die Zeit nach 2045 zu verschieben. Zudem raten die Experten davon ab, in der Zwischenzeit Vorinvestitionen in einen Tiefbahnhof zu tätigen, da dieser ohne das Herzstück ein negatives Nutzen-Kosten-Verhältnis aufweise.
Priorität für gezielten S-Bahn-Ausbau
Die Zurückstellung des Herzstücks bedeutet jedoch keine Vernachlässigung des Schienenverkehrs. Im Gegenteil, die Studie erkennt das grosse Potenzial der S-Bahn Basel für eine nachhaltige Mobilität in der Agglomeration an. Die Experten plädieren für schnellere und kostengünstigere Massnahmen, um das S-Bahn-Netz zu stärken.
Konkrete und sinnvolle Projekte
Anstelle eines grossen und teuren Einzelprojekts schlagen die Gutachter eine Reihe kleinerer, aber wirkungsvoller Verbesserungen vor. Diese Massnahmen sollen die bestehende Infrastruktur optimieren und die Kapazitäten erhöhen.
- Ausbau des Westkopfs am Bahnhof SBB: Diese Massnahme wird als prioritär eingestuft, um den Zugverkehr flüssiger zu gestalten.
- Neubau der Margarethenbrücke: Eng verbunden mit dem Westkopf-Ausbau, ermöglicht der Neubau eine bessere Anbindung.
- Zweiter Umsteigeknoten: Die Schaffung eines weiteren Umsteigepunktes zwischen Bahn und städtischem Nahverkehr soll den Centralbahnplatz entlasten und die Reisezeiten verkürzen.
Diese Projekte sollen laut Bericht in die Agglomerationsprogramme aufgenommen werden, da sie kurz- und mittelfristig spürbare Verbesserungen für Pendler bringen.
Welche Haltestellen sinnvoll sind – und welche nicht
Das Gutachten nimmt auch geplante neue S-Bahn-Haltestellen unter die Lupe. Die geplante Haltestelle Solitude in der Nähe des Badischen Bahnhofs wird klar abgelehnt. Mit Kosten von rund 100 Millionen Franken sei sie nicht nur teuer, sondern befinde sich auch in «viel zu kurzer Distanz zum Badischen Bahnhof» und an einer betrieblich ungünstigen Lage. Ähnlich negativ wird das Projekt «Wendegleise Schützenmatte» bewertet, das mit 300 Millionen Franken zu Buche schlagen würde.
Positiv bewertet wird hingegen die geplante Haltestelle Neuallschwil, die als «priorisierenswert» gilt. Die Haltestelle Dornach Apfelsee wird als «interessante Option» für die Periode nach 2045 eingestuft.
Hohe Priorität für das Basler Tramnetz
Neben dem nationalen und regionalen Schienen- und Strassenverkehr analysiert die Studie auch den städtischen Nahverkehr. Hier erhält das Basler Tramnetz grosses Lob und eine klare Empfehlung für einen schnellen Ausbau.
Die Experten stellen fest, dass die Verkehrsinfrastruktur in Basel in den letzten Jahrzehnten eher zurückhaltend ausgebaut wurde. Dies habe zu Kapazitätsengpässen geführt. Das Tramnetz sei jedoch eine Ausnahme, da es bereits heute weit in die Vororte reicht.
«Die Chance eines raschen weiteren Ausbaus des Tramnetzes gemäss Anmeldungen zum Agglomerationsprogramm wird mit Vorteil genutzt.»
Alle im Anhang des Gutachtens aufgelisteten Tramprojekte, einschliesslich der Tramverlängerung nach Weil am Rhein, erhalten die höchste Prioritätsstufe 1. Die Autoren sehen darin langfristig sinnvolle Netzergänzungen, die auch helfen können, die Zeit bis zu einer allfälligen späteren Realisierung des Herzstücks zu überbrücken.
Regionale Rivalität: Luzern zieht an Basel vorbei
Ein interessanter Nebenaspekt des Gutachtens ist die Bewertung des Durchgangsbahnhofs Luzern. In der Vergangenheit gab es eine gewisse Konkurrenz zwischen dem Basler Herzstück und dem Luzerner Grossprojekt um Bundesgelder. Die Studie «Verkehr 2045» erklärt das Projekt in Luzern nun zum klaren Sieger und vergibt dafür die Prioritätsstufe 1. Dies könnte die Verteilung der Finanzmittel für grosse Bahnprojekte in der Schweiz in den kommenden Jahren massgeblich beeinflussen.