Nach vier Jahrzehnten zieht sich Stephan Werthmüller, der letzte Mitbegründer des renommierten Musikfestivals Baloise Session, von seinen operativen Aufgaben zurück. Sein Abschied im Herbst 2025 markiert das Ende einer Ära, die 1986 mit der Rheinknie-Session begann und sich zu einem international bekannten Event entwickelte. Werthmüller blickt auf eine bewegte Geschichte voller Herausforderungen und Erfolge zurück.
Wichtige Erkenntnisse
- Stephan Werthmüller, Mitbegründer der Baloise Session, tritt nach 40 Jahren zurück.
- Das Festival wuchs von bescheidenen Anfängen zu einem Event mit neun Millionen Franken Jahresbudget.
- Beatrice Stirnimann und Marco Streller sichern die Zukunft des Festivals.
- Frühe Herausforderungen umfassten die Chemiekatastrophe von Schweizerhalle und Open-Air-Misserfolge.
- Das Festival zeichnet sich heute durch seine einzigartige Tischbestuhlung und breite musikalische Ausrichtung aus.
Die Anfänge einer Musikleidenschaft
Stephan Werthmüller gründete 1986 zusammen mit Enrico Bonometti und Matthias Müller die Rheinknie-Session. Dies war der Grundstein für das heutige Festival. Schon 1983 organisierten sie ihr erstes Konzert im Zolli-Restaurant. Werthmüller, der sich selbst als Steuerberater beschreibt, fand seine Leidenschaft in der Musik. Er spielte als Jugendlicher Klavier und Keyboard in einer Band namens Waste, deren einziger Auftritt ihr Höhepunkt war.
Trotz fehlender eigener musikalischer Virtuosität entwickelte Werthmüller eine tiefe Verbindung zur Musik. Die Gründung des Festivals war der Wunsch, etwas zu schaffen, das ohne sie nicht existieren würde. Diese Vision trieb die drei Freunde an und liess sie trotz vieler Hürden nicht aufgeben.
Faktencheck: Von der Rheinknie-Session zur Baloise Session
- 1983: Erstes Konzert der Gründer im Zolli-Restaurant.
- 1986: Offizielle Gründung der Rheinknie-Session.
- 1998: Umbenennung in AVO Session, später Baloise Session.
- 2024: Vertragsverlängerung mit Titelsponsor Baloise bis 2029.
Herausforderungen und Wendepunkte
Die Geschichte des Festivals ist geprägt von Höhen und Tiefen. Ein prägender Moment war das geplante Konzert von B. B. King am 1. November 1986. Am selben Tag ereignete sich die Chemiekatastrophe in Schweizerhalle. Die Veranstalter waren am Boden zerstört, als sie dachten, der Auftritt müsse abgesagt werden. Die Kommunikation war schwierig, da es ausser dem Festnetztelefon kaum Möglichkeiten gab.
Werthmüller erinnert sich an die dramatischen Stunden:
"Als B. B. King im rappelvollen Mustermesse-Saal die ersten Akkorde spielte, standen Matthias, Enrico und ich neben der Bühne, sahen uns an – und weinten."Es waren Tränen der Freude und Erschöpfung. Der Musiker und seine Band reisten entgegen der Annahme mit dem Car an. Die Entwarnung der Behörden kam gerade noch rechtzeitig. Dieses Ereignis zeigte die Widerstandsfähigkeit der Gründer.
Misslungene Open Airs und unerwartete Helfer
Nicht alle Projekte waren erfolgreich. Drei Versuche, Rock- und Pop-Open-Airs zu veranstalten, scheiterten. "Wir griffen auch ein paarmal richtig in die Tinte – vorab mit Open Airs im Rock- und Popstil", sagt Werthmüller. Gründe waren schlechtes Wetter und mangelnde Erfahrung. Ein Open Air im Wenkenpark wurde vom damaligen Schweizer Musikmagazin «Pop Rocky» sogar zum Flop des Jahres gekürt.
Ein besonders chaotisches Erlebnis war der Einsatz der Hells Angels als Security. Werthmüller erzählt: "Diese gratis unser Bier wegtranken, bevor das Festival richtig lief – dafür dann aber ihre Aufsichtspflichten nicht wahrnahmen." Diese Rückschläge führten dazu, dass sich die Veranstalter auf das konzentrierten, was funktionierte: die Hallenkonzerte.
Hintergrund: Die Evolution des Festivals
Die Rheinknie-Session begann als Nischenfestival für Jazz, Blues und Gospel. Mit der Umbenennung in AVO Session im Jahr 1998 und der Partnerschaft mit Davidoff (später Baloise) erweiterte sich das musikalische Spektrum erheblich. Es öffnete sich für World Music und Pop. Ein entscheidender Schritt war die Einführung der berühmten Tischbestuhlung, die den Konzertsaal in einen riesigen Jazzclub verwandelte. Diese Idee, ursprünglich von Stephan Werthmüller kritisch beäugt, erwies sich als Alleinstellungsmerkmal.
Wandel im Musikgeschäft und Drogenvergangenheit
Das Musikgeschäft hat sich über die Jahre stark gewandelt. Früher waren Alkohol und Drogen oft Teil der Künstleranforderungen. Werthmüller bestätigt: "Wenn ein Künstler damals der Ansicht war, dass er das benötige, um in die richtige Stimmung zu kommen, hast du dich als Veranstalter nicht quergestellt." Er gibt zu, dass sie in einigen Fällen Drogen beschafft haben, um die Auftritte zu sichern. Dies sei heute jedoch verjährt.
Heutige Künstler agieren professioneller: "Die meisten Musiker von heute erinnern viel eher an Spitzensportler. Die sind fit, stehen clean auf der Bühne und bringen entsprechend hochstehende Leistungen." Die Wünsche der Künstler haben sich verändert. Statt Whisky werden heute exklusive Mineralwasser verlangt. Auch Forderungen nach fleischfreien Zonen oder der Vereinheitlichung von Toiletten im Backstage-Bereich zeigen den kulturellen Wandel.
Emotionale Momente und persönliche Rückschläge
Der Tod des Mitgründers Matthias Müller an einem Hirntumor war eine der schwierigsten Phasen für das Festival. Werthmüller und Beatrice Stirnimann mussten entscheiden, ob sie die zusätzliche Verantwortung übernehmen würden. "Wäre einer von uns beiden nicht bereit gewesen, die notwendige zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, wäre dies wohl das Ende des Festivals gewesen", so Werthmüller.
Persönlich musste Werthmüller während der 40 Jahre zwei Krebserkrankungen überwinden. Er fragte sich, ob der latente Druck und Stress des Hochrisikogeschäfts Eventorganisation dazu beigetragen haben könnten. Eine klare Antwort gibt es nicht, doch er schliesst einen Zusammenhang nicht aus.
Die Baloise Session heute: Ein Millionenunternehmen
Aus den bescheidenen Anfängen ist ein Grossereignis geworden. Das Jahresbudget der Baloise Session beträgt heute neun Millionen Franken. Die Organisation erfordert ganzjährige Anstrengungen von zwölf Angestellten, während der Festivalzeit steigt die Mitarbeiterzahl auf rund 250 Personen. "Diese Rechnung geht nur auf und führt sogar regelmässig zu einem relativ überschaubaren Gewinn, weil wir hervorragend von unseren Partnern im Sponsoring- und im Gönnersegment unterstützt werden", erklärt Werthmüller.
Die Zukunft des Festivals sieht Werthmüller gesichert. Geschäftsführerin Beatrice Stirnimann, die seit fast drei Jahrzehnten für das Festival arbeitet, leistet Grosses. Auch der ehemalige FCB-Stürmer Marco Streller ist seit 2024 als Verkaufschef dabei. Werthmüller betrachtet Streller als "Glücksgriff", der Türen öffnet und gut mit Menschen umgeht.
Abschied und Vermächtnis
Stephan Werthmüller wird im Herbst 2025 mit 70 Jahren seinen Rückzug vollziehen. Er bleibt dem Festival als Ehrenpräsident und Berater für die Programmgestaltung verbunden, gibt aber die unternehmerische Verantwortung ab. "Ich will nicht meinen Abgang verpassen", sagt er. Der Abschied fällt ihm schwer, da das Festival mehr als die Hälfte seines Lebens ausmachte.
Er blickt mit Wehmut, aber auch mit Stolz zurück. Das Festival ist zu einem festen Bestandteil der Basler Kulturszene geworden. Werthmüller ist überzeugt: "Die Baloise Session findet statt." Diese Aussage fasst die 40 Jahre harter Arbeit, Leidenschaft und Überwindung vieler Hindernisse zusammen. Es ist das Vermächtnis der Gründer, die etwas Einzigartiges geschaffen haben.
- Jahresbudget: 9 Millionen Franken.
- Mitarbeitende (ganzjährig): 12.
- Mitarbeitende (Festivalzeit): ca. 250.
- Titelsponsor: Baloise (Vertrag bis 2029).
Zukünftige Ausrichtung und Musikgeschmack
Die Baloise Session hat sich auch musikalisch weiterentwickelt. Auftritte von DJs oder Boygroups wie Take That im Jahr 2024 zeigen die breite Ausrichtung. Werthmüller findet dies "grossartig", auch wenn es nicht immer seinem persönlichen Musikgeschmack entspricht. Das Credo des Festivals sei, viele verschiedene Vorlieben zu treffen, und persönliche Präferenzen spielten dabei keine Rolle.
Das Schlimmste für einen Veranstalter ist ein abgesagtes Konzert. Glücklicherweise kam dies bei der Baloise Session selten vor. Ein trauriger Vorfall war der geplatzte Auftritt von Jessye Norman im Jahr 2010, die kurz vor dem Konzert ohne nachvollziehbare Gründe absagte. Das Publikum zeigte damals grosses Verständnis.
Künstler-Anekdoten
- Jessye Norman (2010): Sagte Auftritt kurzfristig ab, da sie sich in Basel von "Rassisten" umgeben fühlte.
- Brian Wilson (2016): Auftritt war musikalisch fragwürdig, aber als "Zeitdokument" wertvoll.
- Nina Simone (1998): Tritt stark alkoholisiert auf, ein "Herzschmerz" für Werthmüller.
Auch schlechte Performances sind eine Herausforderung. Werthmüller schämt sich, wenn Künstler nicht liefern. Er erinnert sich an Brian Wilsons Auftritt 2016, der musikalisch nicht überzeugte. Noch schlimmer war für ihn der Auftritt seines Idols Nina Simone im Jahr 1998, die stark alkoholisiert auf die Bühne kam. Solche Momente gehören zur Geschichte des Festivals, zeigen aber auch die menschliche Seite des Musikgeschäfts.





