In der Baselbieter Gemeinde Birsfelden sorgt ein neues System zur Verkehrsüberwachung für landesweite Diskussionen. Eine automatisierte Kameraanlage büsst Autofahrer, die Wohnquartiere als Abkürzung nutzen, mit 100 Franken. Während Anwohner aufatmen, kündigt der Touring Club Schweiz (TCS) rechtliche Schritte bis vor das Bundesgericht an.
Das Wichtigste in Kürze
- Birsfelden setzt Kameras ein, um Durchgangsverkehr in Wohngebieten zu unterbinden. Wer eine bestimmte Strecke in weniger als 15 Minuten durchfährt, wird automatisch gebüsst.
- Die Massnahme hat bereits über 1,5 Millionen Franken an Bussen generiert, was den Vorwurf der finanziellen Abzocke laut werden lässt.
- Der Touring Club Schweiz (TCS) hält das System für rechtswidrig und plant, die Massnahme juristisch bis zur höchsten Instanz anzufechten.
- Trotz der Kontroverse zeigen andere verkehrsgeplagte Gemeinden in der Schweiz grosses Interesse am Modell Birsfelden.
Ein Dorf wehrt sich gegen den Schleichverkehr
Seit September 2023 ist in Birsfelden vieles anders. Die Gemeinde, die direkt an der hochfrequentierten Autobahn A2 liegt, hat dem sogenannten Schleichverkehr den Kampf angesagt. Autofahrer, die bei Stau die Autobahn verlassen und durch die ruhigen Wohnquartiere ausweichen, werden nun systematisch erfasst.
Das Prinzip ist einfach: Kameras registrieren die Nummernschilder bei der Ein- und Ausfahrt definierter Zonen. Benötigt ein Fahrzeug für die Durchquerung weniger als 15 Minuten, geht das System von unerlaubtem Durchgangsverkehr aus. Die Folge ist eine Busse von 100 Franken, die automatisch versendet wird.
Zahlen und Fakten zum Birsfelder Modell
- Start der Massnahme: September 2023
- Höhe der Busse: 100 Schweizer Franken
- Auslöser: Durchfahrt in weniger als 15 Minuten
- Anfängliche Bussen pro Tag: Bis zu 1000
- Aktuelle Bussen pro Tag: 600 bis 800
- Gesamteinnahmen bisher: Über 1,5 Millionen Franken
Von der Blechlawine zur umstrittenen Ruhe
Für die Anwohner der betroffenen Strassen ist die Veränderung spürbar. Wo sich früher bei Stau auf der Autobahn täglich eine Blechlawine durch die engen Strassen zwängte, herrscht nun deutlich mehr Ruhe. Gemeindepräsident Christof Hiltmann (FDP) berichtet von zahlreichen positiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung. Viele bedanken sich persönlich bei ihm für die zurückgewonnene Lebensqualität.
Doch die Massnahme hat auch eine Kehrseite. Die Gemeinde wurde mit Einsprachen und emotionalen Reaktionen überhäuft. Zeitweise musste das Personal in der Verwaltung aufgestockt und sogar ein Sicherheitsmitarbeiter am Schalter postiert werden, um die Situation zu deeskalieren. Hiltmann bezeichnet das Vorgehen als eine Form von „Notwehr“. Der dichte Verkehr habe die Sicherheit gefährdet, da Rettungsfahrzeuge im Notfall kaum noch durchgekommen wären.
Der TCS kündigt massiven Widerstand an
Der grösste Kritiker des Birsfelder Modells ist der Touring Club Schweiz. Die Organisation sieht in der automatisierten Überwachung einen gefährlichen Präzedenzfall und stellt die rechtliche Grundlage infrage. Birgit Kron von der TCS-Sektion beider Basel äussert sich unmissverständlich.
„Wir werden das Bussenregime von Birsfelden wenn nötig bis vor Bundesgericht ziehen. Wir können uns nicht vorstellen, dass eine Mindestaufenthaltsdauer von 15 Minuten im öffentlichen Raum mit Schweizer Recht vereinbar ist.“
Der TCS befürchtet einen „Flickenteppich“ an lokalen Fahrverboten und Kontrollen in der ganzen Schweiz. Dies würde die Reisefreiheit einschränken und erinnere an „Wegzölle wie im Mittelalter“. Neben rechtlichen Bedenken werden auch datenschutzrechtliche Aspekte kritisiert.
Ein juristisch umstrittenes Vorgehen
Die Frage der Legalität ist tatsächlich offen. Vor einigen Jahren mussten Polizeikorps im Kanton Aargau ähnliche Kamerasysteme zur Überwachung von Fahrverboten wieder abschalten, nachdem ein Bezirksgericht einer Beschwerde stattgegeben hatte. Die Gemeinde Birsfelden argumentiert jedoch, sie habe ihr Vorgehen umfassend von Juristen und Datenschützern prüfen lassen.
Juri Schwendemann, ein Mitarbeiter des TCS, hat selbst eine Busse erhalten und will diese aus Prinzip anfechten. Er kritisiert, dass öffentliche Strassen, für die er jahrelang Motorfahrzeugsteuern bezahlt habe, nun „ein Stück weit privatisiert“ würden. „Öffentliche Strassen gehören uns allen – auch den Autofahrern“, so Schwendemann.
Ein Modell für die ganze Schweiz?
Trotz des heftigen Widerstands stösst die Lösung aus Birsfelden andernorts auf grosses Interesse. Viele Schweizer Gemeinden kämpfen mit denselben Problemen des Ausweichverkehrs und suchen nach wirksamen Lösungen.
Andere Gemeinden beobachten Birsfelden genau
Das Problem des Schleichverkehrs ist weit verbreitet. In Domat/Ems (GR) erzeugt der Kanton künstliche Staus, um die Quartierstrassen für Navigationssysteme unattraktiv zu machen. Die Gemeinde Cham (ZG) plant ab 2027 ein ähnliches Überwachungssystem wie Birsfelden. Laut Gemeindepräsident Hiltmann haben sich auch bereits mehrere Zürcher Gemeinden wie Wetzikon sowie Politiker aus der Stadt Basel nach dem Modell erkundigt.
Druck auf Bund und Kantone
Für Gemeindepräsident Hiltmann ist die Massnahme auch ein politisches Signal. Er sieht die Gemeinden als „Letzte in der Nahrungskette“, die die Konsequenzen mangelhafter überregionaler Verkehrsplanung tragen müssten. Mit dem strengen Regime wolle man den Druck auf Bund und Kantone erhöhen, nachhaltige Lösungen für die überlastete Verkehrsinfrastruktur in der Region Basel zu finden.
Die Ironie der Situation: Ausgerechnet Hiltmann, ein Mitglied der wirtschaftsliberalen FDP, hat eines der restriktivsten Verkehrssysteme der Schweiz mitinitiiert. Er rechtfertigt dies mit der ausserordentlichen Belastung für seine Gemeinde.
Inzwischen passen sich einige Autofahrer bereits an. Man beobachtet Fahrzeuge, die auf Parkplätzen warten, bis die 15-Minuten-Frist abgelaufen ist. Ob sich das Modell Birsfelden rechtlich durchsetzen und schweizweit etablieren wird, müssen nun die Gerichte entscheiden. Der Ausgang des Verfahrens wird mit Spannung erwartet.