Eine neue Verkehrsstudie der ETH Zürich, in Auftrag gegeben vom Bund, sorgt in der Region Basel für erhebliche Bedenken. Während der geplante Rheintunnel für den Strassenverkehr Priorität erhält, wird das als zentral erachtete «Herzstück» für den Ausbau des S-Bahn-Netzes als zu teuer und komplex eingestuft. Führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft der Region äusserten sich bei einer Podiumsdiskussion kritisch und warnten vor einem Stillstand für den öffentlichen Verkehr.
ETH-Professor Ulrich Weidmann, Autor der Studie «Verkehr 45», verteidigte die Ergebnisse und verwies auf die Grenzen des Infrastrukturausbaus. Die Debatte zeigt einen tiefen Graben zwischen der nationalen Perspektive und den regionalen Entwicklungszielen.
Das Wichtigste in Kürze
- Die ETH-Studie «Verkehr 45» empfiehlt, den Rheintunnel zu priorisieren, das Bahnprojekt «Herzstück» jedoch zurückzustellen.
 - Die prognostizierten Kosten von 14 Milliarden Franken für das Herzstück waren ein Hauptgrund für die negative Bewertung.
 - Regierungsrat Isaac Reber und Handelskammer-Direktor Martin Dätwyler kritisieren die fehlende Perspektive für die trinationale S-Bahn.
 - Professor Weidmann sieht die Lösung in Digitalisierung und besserer Nutzung bestehender Kapazitäten, nicht nur im Bau neuer Infrastruktur.
 
Ein Gutachten mit weitreichenden Folgen
Die Studie «Verkehr 45» wurde von Bundesrat Albert Rösti in Auftrag gegeben, um rund 500 eingereichte Verkehrsprojekte in der ganzen Schweiz auf ihre Wirksamkeit und Kosten zu überprüfen. Das Ziel: eine Priorisierung für die kommenden Jahrzehnte. Für die Region Basel fielen die Ergebnisse gemischt aus. Einerseits gab es grünes Licht für den Rheintunnel, der die überlastete Stadtautobahn entlasten soll. Andererseits erhielt das Herzstück, der geplante unterirdische Verbindungstunnel für die S-Bahn zwischen den Bahnhöfen SBB und Badischer Bahnhof, eine klare Absage.
Professor Ulrich Weidmann von der ETH Zürich stellte die Erkenntnisse kürzlich bei einer Veranstaltung des «baslerbauforum» vor. Er vermied zunächst die brisanten Projektnamen und sprach stattdessen vom «Verkehrskollaps», der heute real und systemischer sei als in der Nachkriegszeit. «Es braucht nur eine kleine Störung, und das ganze System kollabiert», so Weidmann. Das Schweizer Verkehrssystem befinde sich auf der Notfallstation, wenn auch noch nicht auf der Intensivstation.
Was ist das «Herzstück»?
Das Projekt «Herzstück» ist eine geplante, unterirdische S-Bahn-Verbindung durch die Basler Innenstadt. Es soll die beiden Hauptbahnhöfe Basel SBB und Badischer Bahnhof direkt miteinander verbinden und so eine durchgehende trinationale S-Bahn ermöglichen. Dies würde die Reisezeiten verkürzen und das Umsteigen überflüssig machen, was als entscheidend für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der gesamten Dreiländerregion gilt.
Widerstand aus der Region
Die Empfehlungen der Studie stiessen bei den regionalen Vertretern auf dem Podium auf deutliche Ablehnung. Der Baselbieter Baudirektor Isaac Reber (Grüne) äusserte sich zwar diplomatisch, machte aber die Position der Kantone unmissverständlich klar. Die Zustimmung zum Rheintunnel sei zwar richtig, doch der Ausbau der Schiene sei ebenso zwingend.
«Es wäre falsch, wenn wir den Bahnknoten Basel auf die Zeit nach 2045 verschieben würden. Das würde uns und die halbe Schweiz in ein grosses Dilemma führen», mahnte Reber.
Er betonte, dass die Region Basel wie andere grosse Zentren auch ein Anrecht auf eine funktionierende trinationale S-Bahn habe.
Wirtschaft warnt vor «Grounding»
Noch direkter formulierte Martin Dätwyler, Direktor der Handelskammer beider Basel (HKBB), seine Kritik. «Das Resultat der Studie ist für unsere Wirtschaftsregion eine Enttäuschung. Es bietet für die nächsten Jahre im S-Bahn-Bereich keine Entwicklungsperspektive», erklärte er. Dätwyler bezeichnete das Gutachten als eine Art «Bibel des UVEK», die wohl langfristig als Entscheidungsgrundlage dienen werde.
Für die S-Bahn in der Region Basel sprach er von einem «Dilemma» und einem «Grounding». Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf, dass die Anliegen der Region im nationalen Parlament Gehör finden werden. Das berechtigte Anliegen einer so grossen Wirtschaftsregion müsse eine Perspektive erhalten.
Kosten als Knackpunkt
Ein zentraler Grund für die negative Bewertung des Herzstücks sind die hohen Kosten. Die Studie geht von prognostizierten 14 Milliarden Franken aus. Professor Weidmann betonte, dass der Grenznutzen neuer Grossprojekte immer kleiner werde, während die Kosten für vergleichbare Massnahmen stetig steigen.
Die Argumente des Experten
Professor Weidmann verteidigte den Ansatz seiner Studie. Ein flächendeckender Ausbau der Infrastruktur wie in den 1960er- und 1970er-Jahren sei heute nicht mehr die richtige Antwort. Damals sei man an finanzielle und räumliche Grenzen gestossen. Heute kämen zunehmend der Widerstand aus der Bevölkerung und explodierende Kosten hinzu.
Er argumentierte, dass die massiven Investitionen in die Bahn in den letzten 15 Jahren den Anteil des öffentlichen Verkehrs am Gesamtverkehr (Modalsplit) kaum verändert hätten. «Die Schere zwischen Kosten und Nutzen läuft auseinander», so Weidmann. Dennoch seien gezielte Ausbauten an Schlüsselstellen im Netz weiterhin wichtig, damit die regionalen Systeme nicht kollabieren.
Als kurzfristige und wirksame Alternativen nannte er mehrere Punkte:
- Digitalisierung: Der Verkehr hinke hier um 50 Jahre hinterher. Smarte Steuerungssysteme könnten den Verkehrsfluss deutlich verbessern.
 - Kapazitätsnutzung: Bestehende Infrastrukturen müssten besser ausgelastet werden, bevor man neue baue.
 - Kleinteilige Mobilität: Flexible und bedarfsgerechte Mobilitätsformen müssten stärker gefördert werden.
 
Weitere Lösungsansätze im Gespräch
Auch andere Experten brachten ihre Perspektiven in die Debatte ein. Der Politgeograf Michael Hermann schlug eine gezieltere Siedlungsentwicklung vor. Wenn Wohnen, Arbeiten und Freizeit räumlich näher zusammenrücken, könne dies den Pendler- und Freizeitverkehr erheblich reduzieren.
Der Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern plädierte für ein Aufbrechen der klassischen Arbeitszeiten. Flexiblere Modelle könnten dazu beitragen, die Verkehrsspitzen am Morgen und am Abend zu glätten und so das gesamte System zu entlasten. Die Diskussion hat gezeigt, dass die Zukunft der Mobilität in der Region Basel noch lange nicht entschieden ist. Der Konflikt zwischen teuren Grossprojekten und alternativen Lösungsansätzen wird die Politik in den kommenden Jahren weiter intensiv beschäftigen.





